Wortgeschichtlich betrachtet deutet das Wort »Staat« auf so etwas wie »Stand«, »Status«, »Rang«, gar »Pracht« oder »Prunk«. Demnach ist der Staat etwas standhaftes, etwas status- oder rangsicherndes - und dennoch, oder gerade deswegen, etwas durchaus funktionelles. Heute zählt der Begriff »Staat« zu den Selbstverständlichkeiten und genießt die gute Gesellschaft anderer Selbstverständlichkeiten: »Löwenzahn«, »Langstreckenrakete«, »Gaststätte«, »Kriegsherr«, »Hut«, oder »Tränengas«. Dabei wird häufig folgende Tatsache übersehen: Der Staat, diese gebündelte exekutive, legislative, judikative Macht, ist nichts Vorgefundenes, sondern ein künstliches, ein fiktives (will heißen von Menschen gemachtes), ein zufälliges Zweckbündnis, oft das Ergebnis unappetitlicher Machenschaften. Alle wissen, daß ein Mythos eine Fiktion ist. In der Regel gründet jeder Mythos auf realen Geschehnissen - normalerweise irgendwo in unzugänglich dunkler Vergangenheit - aber irgendwann geht die Wahrheit (Geschichte) zur Fiktion (Mythos) über, sei es einer interessenbezogenen Deutlichkeit zuliebe, sei es in Folge der Zerrung epochenübergreifender Wiederholungen. Üblicherweise machen den Mythos, auf den ein Staat gründet, die Sagen und Legenden der Gründerzeit und des Heroismus einzelner Helden aus. Die Funktion dieser Ansammlungen von Erzählungen und zielgerichteten Übertreibungen läuft auf viel mehr hinaus, als eine bloße Quelle nachahmungswürdiger Verhaltensweisen. Eine Funktion des Mythos des Staates ist es, die gewaltreiche Wahrheit der Geburt eines Machtkollektivs zu übertünchen. Bewiesenermaßen ist die Schaffung eines solchen Zweckbündnisses, das Verfassen einer solchen Macht aus dem Nichts, wiederholbar. Auch der einzelne Staat wird immer wieder, wird ständig kreiert - wird also gleichsam künstlich am Leben gehalten. Natürlich gibt es andere Mythen, die dem des Staates verwandt sind. Nehmen wir den Mythos, der die Unbeweisbarkeit der Existenz von so etwas wie ein »Volk« in unverschämter Weise tilgt; das Paradebeispiel hier bilden die gefälschten »Entdeckungen« der NS-Archäologen. Oder nehmen wir den Mythos des nutzlos werdenden Begriffs »Nation«, ein Begriff, der von vornherein dazu gehalten werden müßte, eine merkwürdige Fixierung auf die Ortschaft in der der in Frage kommende Untertan geboren wurde zu belegen. Eine Antwort auf die Frage nach lebensfähiger Alternativen zur Nation scheint mehr zu verlangen als eine wachsende Handvoll titanisch-süß klingender, Riesen-Baby-Akronyme (UNO, EWU, NATO, SEATO, OPEC, NAFTA, OSZE, usw.), Akronyme, die Themen aus George Orwells 1984 hervorrufen. Noch heute wird am neuesten Mythos - die Mutter aller Mythen, der Mythos der post-staatlichen Ära - gebastelt. Letzterer ist nichts anderes als der Mythos der Globalisierung, eine schön gerundete Metapher für Zusammenbruch und gezwungene Neuorientierung - als ob »Globalisieren« ein Jedermanns-Verb sein könnte (»Was sagst Du, Liebling, sollen wir heute abend globalisieren gehen?«). Die Gewalt der Geburt dieses Machtarrangements ist an den Ausschreitungen anläßlich des WTO-Gipfels in Seattle abzulesen. Das Wichtigste, das Staat und Mythos gemeinsam haben, ist die Tatsache, daß beides Erzählungen sind - und folglich Texte. Die oben angesprochenen lebensrettenden Maßnahmen für einen jeden Staat sind hermeneutischer - d. h. interpretativer - Art. Den Mythos, z. B. den des Hermes, gilt es, richtig zu verstehen; und es gilt, den Begriff eines Staates richtig auszulegen. Dazu gibt es ein gescheites Werkzeug, ein Werkzeug dessen Name deutlich macht, daß Staatskunst eine literarische Gabe ist: Die Verfassung.
Steve Britt für die
Magic Street Voices